Klinikstandard: Endokarditisprophylaxe

Aus Urothek Neunkirchen
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Die infektiöse Endokarditis ist nach wie vor mit einer schlechten Prognose und einer hohen Mortalität behaftet. Leider sind die Schlussfolgerungen aus Studien und Untersuchungen der letzten Jahre und Jahrzehnte sehr inhomogen und machen daher eine einheitliche Empfehlung vor allem bezüglich der Prophylaxemassnahmen dieser Erkrankung schwierig.

Das Prinzip der antibiotischen Prophylaxe der infekti­ösen Endokarditis beruht auf Beobach­tungen, die bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts gemacht wurden. Die Hypothese ist, dass Bakteriämien, die im Rahmen medizinischer Eingriffe entste­hen, bei Patienten mit entsprechenden Risikofaktoren zu infektiösen Endokardi­tiden führen können. Es wird angenom­men, dass eine prophylaktische Gabe von Antibiotika diese Erkrankungen effektiv und effizient verhindern kann.

Pathogenese der infektiösen Endokarditis

Die gegenwärtigen Vorstellungen zur Pa­thogenese der infektiösen Endokarditis sehen als initiales Ereignis die Formie­rung thrombotischer Auflagerungen auf dem Endothel infolge eines turbulenten Flusses im Bereich von Engstellen oder endothelialen Läsionen. Durch Verlet­zungen der Mukosa im Rahmen zahn­ärztlicher Eingriffe oder von Eingriffen am Respirations-, Urogenital- oder Gas­trointestinaltrakt kommt es zu transito­rischen Bakteriämien mit endokarditisty­pischen Erregern. Abhängig von verschie­denen Virulenzfaktoren kommt es dann zur Adhäsion der Mikroorganismen und nachfolgender Kolonisation der throm­botischen Auflagerungen. Durch fortge­setzte Anlagerung von Fibrin und Throm­bozyten entstehen Vegetationen, die mit Mikroorganismen besiedelt werden.

Lebenszeitrisiko für eine infektiöse Endokarditis

Das Lebenszeitrisiko für eine infekti­öse Endokarditis in der Normalbevölke­rung beträgt 5−7:100.000 Patientenjahre. Bei Patienten mit Mitralklap­penprolaps ohne Insuffizienz wird es mit 4,6:100.000 Patientenjahre, bei Mitral­klappenprolaps mit begleitender Insuffi­zienz mit 52:100.000 Patientenjahre ange­nommen. Bei Patienten mit angebo­renen Vitien beträgt es zwischen 145 und 271:100.000 Patientenjahre, bei rheu­matischen Vitien 380–440:100.000 Pati­entenjahre, bei Klappenprothesen 308–383:100.000 Patientenjahre, bei Patienten mit Klappenersatz nach einer Endokarditis 630:100.000 Patientenjahre, bei Patienten nach einer Endokarditis 740:100.000 Pa­tientenjahre und bei Patienten mit Klap­penersatz wegen einer Klappenprothese­nendokarditis 2160:100.000 Patienten­jahre.

Kosten-Nutzen-Relation der gegenwärtigen Prophylaxepraxis

Selbst bei Annahme einer vollständigen Compliance und Wirksamkeit einer Pro­phylaxe wäre die Anzahl der Pati­enten, die man behandeln müsste, um auch nur einen Endokarditisfall zu ver­meiden, sehr hoch.

Kosten-Nutzen-Analysen kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Wenn überhaupt, wird eine posi­tive Kosten-Nutzen Relation nur für ein­zelne Indikationen mit definierten Subs­tanzen errechnet. Umgekehrt wird un­ter Berücksichtigung möglicher uner­wünschter Arzneimittelwirkungen für bestimmte Konstellationen auch eine ver­mehrte Anzahl von Todesfällen durch die gegenwärtige Prophylaxepraxis errechnet. Es wird allgemein von einer Inzidenz von tödlichen anaphylaktischen Reakti­onen bei 15–25/1.000.000 Patienten, die mit Penicillinen behandelt werden, aus­gegangen. Bei Cephalosporinen ist die Inzidenz noch geringer.

Paradigmenwechsel bei der Prophylaxe der infektiösen Endokarditis

Für die Effektivität und Effizienz der An­tibiotikaprophylaxe einer infektiösen En­dokarditis liegt nur eine unzureichende Evidenz vor. Dennoch empfehlen die deutsche Gesellschaft für Kardiologie sowie die Leitlinie der American Heart Asso­ciation eine auf definierte Hochrisikopa­tienten und -konstellationen beschränkte Prophylaxe. Ein Paradigmenwechsel in der Praxis der Prophylaxe der infektiösen Endokarditis scheint erforderlich.

Das Ziel der bisherigen Leitlinien zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis, von den ersten Empfehlungen der Ame­rican Heart Association 1955 bis hin zu den bisherigen Leitlinien der meisten deutschsprachigen Fachgesellschaften und der European Society of Cardiology war, möglichst bei allen Patienten mit einem erhöhten Risiko die Entstehung ei­ner infektiösen Endokarditis durch Bak­teriämien im Zusammenhang mit medi­zinischen Eingriffen zu verhindern. Nach Ansicht der aktuellen Leitlinien sowie den Empfehlungen der AHA sollten sich Empfehlungen zur Endokarditisprophy­laxe allerdings mehr an der Frage orien­tieren, welche Patienten mit hoher Wahr­scheinlichkeit von einer Antibiotikapro­phylaxe profitieren werden. Mit dieser Überlegung lässt sich der bisherige Ein­satz der Prophylaxe sinnvoll eingrenzen und die Effizienz der Prophylaxemaßnah­men steigern, ohne Hochrisikopatienten einer möglicherweise vermeidbaren Ge­fährdung durch Unterlassung auszuset­zen.

Tabelle 1: Patienten mit der höchsten Wahrscheinlichkeit eines schweren oder letalen Verlaufs einer infektiösen Endokarditis (Empfehlungsgrad IIa, Evidenzlevel C)
Patienten mit Klappenersatz (mechanische und biologische Prothesen)
Patienten mit rekonstruierten Klappen unter Verwendung von alloprothetischem material in den ersten 6 Monaten nach Operation a
Patienten mit überstandener Endokarditis
Patienten mit angeborenen Herzfehlern
  • Zyanotische Herzfehler, die nicht, mit residuellen Defekten, mit palliativem systemisch-pulmonalen Shunt oder Conduits operiert sind.
  • Operierte Herzfehler mit Implantation von Conduits (mit oder ohne Klappe) oder residuellen Defekten, d.h. turbulenter Blutströmung im Bereich des prothetischen Materials
Alle operativ oder interventionell unter Verwendung von prothetischem Material behandelten Herzfehler in den ersten 6 Monaten nach Operation a
Herztransplantierte Patienten, die eine kardiale Valvulopathie entwickeln

a nach 6 Monaten wird eine suffiziente Endothelialisierung der Prothesen angenommen.

Bei allen anderen Herzfehlern, die nach den bisherigen Empfehlungen eine Prophylaxe erhalten haben ist dies mit Empfehlungsgrad IIIC nicht mehr notwendig bzw empfohlen. Es kann allerdings eine individuelle Abwägung bei Patienten, die nicht in Tab. 1 aufgelis­tet sind, erfolgen. Dies betrifft besonders Patienten, die bisher nach den alten Leitlinien ohne Probleme oder unerwünschte Nebenwirkungen eine Antibiotika-Gabe durchgeführt haben und diese Praxis in Absprache mit ihrem behandelnden Arzt fortführen möchten.

Tabelle 2: Empfohlene Prophylaxe (vor zahnärztlichen Eingriffen)a - Einzeldosis 30-60 min vor dem Eingriff
Situation Antibiotikum Erwachsene Kinder
Orale Einnahme Amoxicillinb 2 g p.o. 50 mg/kg p.o.
Orale Einnahme nicht möglich Ampicillinb,c 2 g i.v. 50 mg/kg i.v.
Penicillin- oder Ampicillinallergie – orale Einnahme Clindamycind,e 600 mg p.o. 20 mg/kg p.o.
Penicillin- oder Ampicillinallergie – orale Einnahme nicht möglich Clindamycinc,e 600 mg i.v. 20 mg/kg i.v.
a. Zu Besonderheiten der Prophylaxe vor Eingriffen am Respirations-, Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt sowie an infizierten Haut- und Hautanhangsgebilden und am muskuloskelettalen System siehe unten folgenden Text.

b. Penicillin G oder V kann weiterhin als Alternative verwendet werden

c. Alternativ Cefazolin, Ceftriaxon 1 g i.v. für Erwachsene bzw. 50 mg/kg i.v. bei Kindern.

d. Alternativ Cefalexin: 2 g p.o. für Erwachsene bzw. 50 mg/kg p.o. bei Kindern oder Clarithromycin 500 mg p.o. für Erwachsene bzw. 15 mg/kg p.o. bei Kindern.

Cave: Cephalosporine sollten generell nicht appliziert werden bei Patienten mit vorangegangener Ana­phylaxie, Angioödem oder Urtikaria nach Penicillin- oder Ampicillingabe.

Empfehlungen zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis

Eine Antibiotikaprophylaxe sollte generell 30–60 min vor einer Prozedur verabreicht werden. Nur für den Fall, dass ein Patient keine Prophylaxe vor einem Eingriff er­halten hat, erscheint diese bis zu 2 h nach dem Eingriff noch sinnvoll (IIa/C).

Patienten ohne manifeste Infektionen

Eingriffe am Gastrointestinaltrakt oder Urogenitaltrakt

Bei Eingriffen am Gastrointestinaltrakt oder Urogenitaltrakt muss die Prophylaxe überwiegend gegen Enterokokken gerich­tet sein. Allerdings beruht die Evidenz für einen Zusammenhang von Bakteriämien infolge von Eingriffen am Gastrointes­tinal- oder Urogenitaltrakt und dem Auftreten infektiöser Endokarditiden le­diglich auf einzelnen Fallberichten.

Aus diesem Grund wird eine generelle Endo­karditisprophylaxe im Rahmen von Ein­griffen am Gastrointestinaltrakt oder Uro­genitaltrakt, auch bei einer Gastroskopie, Koloskopie oder Zystoskopie auch bei Bi­opsieentnahme nicht mehr empfohlen (Empfehlungs-/Evidenz­grad IIIC).

Patienten mit manifesten Infektionen

Eingriffe am Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt

Aufgrund theoretischer Überlegungen werden folgende Maßnahmen empfoh­len:

  1. Bei Patienten mit in Tabelle 1 ge­nannten Risikokonditionen, die an Infektionen des Gastrointestinal- oder Urogenitaltraktes leiden oder wenn diese Patienten Antibiotika zur Ver­meidung von Wundinfektionen oder Sepsis im Rahmen von gastrointes­tinalen oder urogenitalen Eingriffen erhalten, sollte das Antibiotikaregime eine Substanz enthalten, die wirksam gegen Enterokokken ist (z. B. Ampi­cillin, Piperacillin oder Vancomycin. Vancomycin sollte nur bei Unverträg­lichkeit gegenüber β-Laktam-Antibio­tika eingesetzt werden (Empfehlungs-/Evidenzgrad IIb/B).
  2. Bei Patienten mit in Tabelle 1 ge­nannten Risikokonditionen, die eine Harnwegsinfektion oder Bakteriurie durch Enterokokken aufweisen und bei denen eine Zystoskopie oder an­dere Manipulationen am Urogenital­trakt erforderlich sind, sollte das Antibiotikaregime eine Substanz enthal­ten, die wirksam gegen Enterokokken ist (siehe oben; Empfehlungs-/Evidenz­grad IIb/B).

Generell gilt zu beachten, dass die hier aufgeführten Maßnahmen zwar mögli­cherweise sinnvoll erscheinen, allerdings gibt es keine Daten, die belegen, dass ein derartiges Vorgehen geeignet ist, Endo­karditiden durch Enterokokken zu ver­hindern (Empfehlungsgrad IIb/C).

Leitlinien und weiterführende Literatur

  • www.awmf.org (Leitlinien zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis)
  • Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung e.V. (2007) sowie
  • Kommentar und Positionierungspaper der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zur ESC-Leitlinie (2010)
  • Leitlinien der American Heart Association (2007)
  • Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (2009, www.escardio.org)