Klinikstandard: Endokarditisprophylaxe
Die infektiöse Endokarditis ist nach wie vor mit einer schlechten Prognose und einer hohen Mortalität behaftet. Leider sind die Schlussfolgerungen aus Studien und Untersuchungen der letzten Jahre und Jahrzehnte sehr inhomogen und machen daher eine einheitliche Empfehlung vor allem bezüglich der Prophylaxemassnahmen dieser Erkrankung schwierig.
Das Prinzip der antibiotischen Prophylaxe der infektiösen Endokarditis beruht auf Beobachtungen, die bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts gemacht wurden. Die Hypothese ist, dass Bakteriämien, die im Rahmen medizinischer Eingriffe entstehen, bei Patienten mit entsprechenden Risikofaktoren zu infektiösen Endokarditiden führen können. Es wird angenommen, dass eine prophylaktische Gabe von Antibiotika diese Erkrankungen effektiv und effizient verhindern kann.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Pathogenese der infektiösen Endokarditis
- 2 Lebenszeitrisiko für eine infektiöse Endokarditis
- 3 Kosten-Nutzen-Relation der gegenwärtigen Prophylaxepraxis
- 4 Paradigmenwechsel bei der Prophylaxe der infektiösen Endokarditis
- 5 Empfehlungen zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis
- 6 Leitlinien und weiterführende Literatur
Pathogenese der infektiösen Endokarditis
Die gegenwärtigen Vorstellungen zur Pathogenese der infektiösen Endokarditis sehen als initiales Ereignis die Formierung thrombotischer Auflagerungen auf dem Endothel infolge eines turbulenten Flusses im Bereich von Engstellen oder endothelialen Läsionen. Durch Verletzungen der Mukosa im Rahmen zahnärztlicher Eingriffe oder von Eingriffen am Respirations-, Urogenital- oder Gastrointestinaltrakt kommt es zu transitorischen Bakteriämien mit endokarditistypischen Erregern. Abhängig von verschiedenen Virulenzfaktoren kommt es dann zur Adhäsion der Mikroorganismen und nachfolgender Kolonisation der thrombotischen Auflagerungen. Durch fortgesetzte Anlagerung von Fibrin und Thrombozyten entstehen Vegetationen, die mit Mikroorganismen besiedelt werden.
Lebenszeitrisiko für eine infektiöse Endokarditis
Das Lebenszeitrisiko für eine infektiöse Endokarditis in der Normalbevölkerung beträgt 5−7:100.000 Patientenjahre. Bei Patienten mit Mitralklappenprolaps ohne Insuffizienz wird es mit 4,6:100.000 Patientenjahre, bei Mitralklappenprolaps mit begleitender Insuffizienz mit 52:100.000 Patientenjahre angenommen. Bei Patienten mit angeborenen Vitien beträgt es zwischen 145 und 271:100.000 Patientenjahre, bei rheumatischen Vitien 380–440:100.000 Patientenjahre, bei Klappenprothesen 308–383:100.000 Patientenjahre, bei Patienten mit Klappenersatz nach einer Endokarditis 630:100.000 Patientenjahre, bei Patienten nach einer Endokarditis 740:100.000 Patientenjahre und bei Patienten mit Klappenersatz wegen einer Klappenprothesenendokarditis 2160:100.000 Patientenjahre.
Kosten-Nutzen-Relation der gegenwärtigen Prophylaxepraxis
Selbst bei Annahme einer vollständigen Compliance und Wirksamkeit einer Prophylaxe wäre die Anzahl der Patienten, die man behandeln müsste, um auch nur einen Endokarditisfall zu vermeiden, sehr hoch.
Kosten-Nutzen-Analysen kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Wenn überhaupt, wird eine positive Kosten-Nutzen Relation nur für einzelne Indikationen mit definierten Substanzen errechnet. Umgekehrt wird unter Berücksichtigung möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen für bestimmte Konstellationen auch eine vermehrte Anzahl von Todesfällen durch die gegenwärtige Prophylaxepraxis errechnet. Es wird allgemein von einer Inzidenz von tödlichen anaphylaktischen Reaktionen bei 15–25/1.000.000 Patienten, die mit Penicillinen behandelt werden, ausgegangen. Bei Cephalosporinen ist die Inzidenz noch geringer.
Paradigmenwechsel bei der Prophylaxe der infektiösen Endokarditis
Für die Effektivität und Effizienz der Antibiotikaprophylaxe einer infektiösen Endokarditis liegt nur eine unzureichende Evidenz vor. Dennoch empfehlen die deutsche Gesellschaft für Kardiologie sowie die Leitlinie der American Heart Association eine auf definierte Hochrisikopatienten und -konstellationen beschränkte Prophylaxe. Ein Paradigmenwechsel in der Praxis der Prophylaxe der infektiösen Endokarditis scheint erforderlich.
Das Ziel der bisherigen Leitlinien zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis, von den ersten Empfehlungen der American Heart Association 1955 bis hin zu den bisherigen Leitlinien der meisten deutschsprachigen Fachgesellschaften und der European Society of Cardiology war, möglichst bei allen Patienten mit einem erhöhten Risiko die Entstehung einer infektiösen Endokarditis durch Bakteriämien im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen zu verhindern. Nach Ansicht der aktuellen Leitlinien sowie den Empfehlungen der AHA sollten sich Empfehlungen zur Endokarditisprophylaxe allerdings mehr an der Frage orientieren, welche Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Antibiotikaprophylaxe profitieren werden. Mit dieser Überlegung lässt sich der bisherige Einsatz der Prophylaxe sinnvoll eingrenzen und die Effizienz der Prophylaxemaßnahmen steigern, ohne Hochrisikopatienten einer möglicherweise vermeidbaren Gefährdung durch Unterlassung auszusetzen.
| Tabelle 1: Patienten mit der höchsten Wahrscheinlichkeit eines schweren oder letalen Verlaufs einer infektiösen Endokarditis (Empfehlungsgrad IIa, Evidenzlevel C) |
|---|
| Patienten mit Klappenersatz (mechanische und biologische Prothesen) |
| Patienten mit rekonstruierten Klappen unter Verwendung von alloprothetischem material in den ersten 6 Monaten nach Operation a |
| Patienten mit überstandener Endokarditis |
Patienten mit angeborenen Herzfehlern
|
| Alle operativ oder interventionell unter Verwendung von prothetischem Material behandelten Herzfehler in den ersten 6 Monaten nach Operation a |
| Herztransplantierte Patienten, die eine kardiale Valvulopathie entwickeln |
a nach 6 Monaten wird eine suffiziente Endothelialisierung der Prothesen angenommen.
Bei allen anderen Herzfehlern, die nach den bisherigen Empfehlungen eine Prophylaxe erhalten haben ist dies mit Empfehlungsgrad IIIC nicht mehr notwendig bzw empfohlen. Es kann allerdings eine individuelle Abwägung bei Patienten, die nicht in Tab. 1 aufgelistet sind, erfolgen. Dies betrifft besonders Patienten, die bisher nach den alten Leitlinien ohne Probleme oder unerwünschte Nebenwirkungen eine Antibiotika-Gabe durchgeführt haben und diese Praxis in Absprache mit ihrem behandelnden Arzt fortführen möchten.
| Tabelle 2: Empfohlene Prophylaxe (vor zahnärztlichen Eingriffen)a - Einzeldosis 30-60 min vor dem Eingriff | |||
|---|---|---|---|
| Situation | Antibiotikum | Erwachsene | Kinder |
| Orale Einnahme | Amoxicillinb | 2 g p.o. | 50 mg/kg p.o. |
| Orale Einnahme nicht möglich | Ampicillinb,c | 2 g i.v. | 50 mg/kg i.v. |
| Penicillin- oder Ampicillinallergie – orale Einnahme | Clindamycind,e | 600 mg p.o. | 20 mg/kg p.o. |
| Penicillin- oder Ampicillinallergie – orale Einnahme nicht möglich | Clindamycinc,e | 600 mg i.v. | 20 mg/kg i.v. |
| a. Zu Besonderheiten der Prophylaxe vor Eingriffen am Respirations-, Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt sowie an infizierten Haut- und Hautanhangsgebilden und am muskuloskelettalen System siehe unten folgenden Text.
b. Penicillin G oder V kann weiterhin als Alternative verwendet werden c. Alternativ Cefazolin, Ceftriaxon 1 g i.v. für Erwachsene bzw. 50 mg/kg i.v. bei Kindern. d. Alternativ Cefalexin: 2 g p.o. für Erwachsene bzw. 50 mg/kg p.o. bei Kindern oder Clarithromycin 500 mg p.o. für Erwachsene bzw. 15 mg/kg p.o. bei Kindern. Cave: Cephalosporine sollten generell nicht appliziert werden bei Patienten mit vorangegangener Anaphylaxie, Angioödem oder Urtikaria nach Penicillin- oder Ampicillingabe. | |||
Empfehlungen zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis
Eine Antibiotikaprophylaxe sollte generell 30–60 min vor einer Prozedur verabreicht werden. Nur für den Fall, dass ein Patient keine Prophylaxe vor einem Eingriff erhalten hat, erscheint diese bis zu 2 h nach dem Eingriff noch sinnvoll (IIa/C).
Patienten ohne manifeste Infektionen
Eingriffe am Gastrointestinaltrakt oder Urogenitaltrakt
Bei Eingriffen am Gastrointestinaltrakt oder Urogenitaltrakt muss die Prophylaxe überwiegend gegen Enterokokken gerichtet sein. Allerdings beruht die Evidenz für einen Zusammenhang von Bakteriämien infolge von Eingriffen am Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt und dem Auftreten infektiöser Endokarditiden lediglich auf einzelnen Fallberichten.
Aus diesem Grund wird eine generelle Endokarditisprophylaxe im Rahmen von Eingriffen am Gastrointestinaltrakt oder Urogenitaltrakt, auch bei einer Gastroskopie, Koloskopie oder Zystoskopie auch bei Biopsieentnahme nicht mehr empfohlen (Empfehlungs-/Evidenzgrad IIIC).
Patienten mit manifesten Infektionen
Eingriffe am Gastrointestinal- oder Urogenitaltrakt
Aufgrund theoretischer Überlegungen werden folgende Maßnahmen empfohlen:
- Bei Patienten mit in Tabelle 1 genannten Risikokonditionen, die an Infektionen des Gastrointestinal- oder Urogenitaltraktes leiden oder wenn diese Patienten Antibiotika zur Vermeidung von Wundinfektionen oder Sepsis im Rahmen von gastrointestinalen oder urogenitalen Eingriffen erhalten, sollte das Antibiotikaregime eine Substanz enthalten, die wirksam gegen Enterokokken ist (z. B. Ampicillin, Piperacillin oder Vancomycin. Vancomycin sollte nur bei Unverträglichkeit gegenüber β-Laktam-Antibiotika eingesetzt werden (Empfehlungs-/Evidenzgrad IIb/B).
- Bei Patienten mit in Tabelle 1 genannten Risikokonditionen, die eine Harnwegsinfektion oder Bakteriurie durch Enterokokken aufweisen und bei denen eine Zystoskopie oder andere Manipulationen am Urogenitaltrakt erforderlich sind, sollte das Antibiotikaregime eine Substanz enthalten, die wirksam gegen Enterokokken ist (siehe oben; Empfehlungs-/Evidenzgrad IIb/B).
Generell gilt zu beachten, dass die hier aufgeführten Maßnahmen zwar möglicherweise sinnvoll erscheinen, allerdings gibt es keine Daten, die belegen, dass ein derartiges Vorgehen geeignet ist, Endokarditiden durch Enterokokken zu verhindern (Empfehlungsgrad IIb/C).
Leitlinien und weiterführende Literatur
- www.awmf.org (Leitlinien zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis)
- Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung e.V. (2007) sowie
- Kommentar und Positionierungspaper der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zur ESC-Leitlinie (2010)
- Leitlinien der American Heart Association (2007)
- Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (2009, www.escardio.org)